Zweiter Stresstest fürs Stromsystem

Die Versorgungssicherheit im deutschen Stromsystem ist trotz der angespannten Lage auf den Energiemärkten weiter hoch. Das zeigen die Ergebnisse des zweiten Stresstests.

Freileitungsmast© Adobe Stock / Gina Sanders

Wie sicher ist unsere Stromversorgung? Kann die Stromnachfrage jederzeit gedeckt werden? Können die Netze den erzeugten Strom transportieren oder muss an manchen Stellen gegengesteuert werden? Das hat die Bundesregierung von Mitte Juli bis Anfang September 2022 in einer Sonderanalyse zur Sicherheit des Stromnetzes von den Übertragungsnetzbetreibern untersuchen lassen - um die Versorgungssicherheit zu überprüfen und weiter auf einem hohen Niveau zu halten.

Anlass für die Überprüfung war nicht nur die durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine angespannte Lage auf den Energiemärkten. Auch der trockene Sommer, Niedrigwasser in den Flüssen, welches die Steinkohletransporte eingeschränkt hatte und der aktuelle Ausfall von etwa der Hälfte der französischen Atomkraftwerke haben Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit.

Krisensituationen bleiben sehr unwahrscheinlich

Am 9. September hatten die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz, Amprion, TenneT und TransnetBW schließlich die finalen Ergebnisse des zweiten Netzstresstestes (zweite Sonderanalyse Winter 22/23) vorgelegt. Demnach sind stundenweise krisenhafte Situationen im Stromsystem im Winter 2022/2023 zwar sehr unwahrscheinlich, können derzeit aber nicht vollständig ausgeschlossen werden. Zusätzliche Maßnahmen sollen helfen, das Netz auch in diesen unwahrscheinlichen Fällen stabil zu halten.

Bundesminister Habeck erklärte zur Veröffentlichung der Ergebnisse die nächsten Schritte: „Es ist weiterhin sehr unwahrscheinlich, dass es zu Krisensituationen und Extremszenarien kommen wird. Aber als Minister, der für die Versorgungssicherheit zuständig ist, tue ich alles, was nötig ist, um die Versorgungssicherheit vollumfänglich zu gewährleisten. Daher haben wir etliche Maßnahmen, die der Stresstest als notwendig erachtet, bereits in der Umsetzung, wie beispielsweise die Marktrückkehr der Kohlekraftwerke.“

Erste Maßnahmen sind bereits Bestandteil der EnSiG-Novelle. Zu diesen Maßnahmen gehören unter anderem die zusätzliche Stromproduktion in Biogasanlagen und Maßnahmen zur Höherauslastung der Stromnetze sowie zur Verbesserung ihrer Transportkapazitäten.

Am 28. September hatte das Bundeskabinett beschlossen, dass Kraftwerke aus der Netzreserve angesichts der Gasknappheit länger als zu vor geplant im Einsatz bleiben können (bis Ende März 2024), sofern die knappe Stromversorgungslage dies notwendig macht. Seit Anfang Oktober können zudem die Braunkohle-Kraftwerke aus der Versorgungsreserve an den Markt zurückkehren.

Zwei Atomkraftwerke bilden Einsatzreserve bis April 2023

Auf Basis der Ergebnisse aus dem Stresstest wurde außerdem beschlossen, zwei der letzten drei deutschen Atomkraftwerke bis April 2023 in eine Einsatzreserve zu überführen. Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg und Isar 2 in Bayern sollen falls erforderlich länger Strom bereitstellen können. Das Kraftwerk Emsland soll dagegen wie geplant zum 31. Dezember 2022 komplett abgeschaltet werden.

Ob der Betrieb der Anlagen notwendig ist, wird entlang der Grunddaten des „Netzstresstests“ entschieden. Dabei geht es vor allem um die Verfügbarkeit der Atomkraftwerke in Frankreich, den Umfang der an den Markt zurückgekehrten Kohlekraftwerke, die Verfügbarkeit der Gas- und Kohlekraftwerke sowie die erwartete Entwicklung des Stromverbrauches. Die Entscheidung über den Reservebetrieb der Atomkraftwerke soll laut des dafür vereinbarten Eckpunktepapieres noch in diesem Jahr fallen.

In den drei verschiedenen Szenarien des Stresstestes (kritisches Szenario +, sehr kritisches Szenario ++ und Extremszenario +++) wurden mögliche Auswirkungen einer unterschiedlich kritischen Lage der Energiemärkte auf den Stromsektor in Deutschland und Europa untersucht. Das Zusammenspiel mit den europäischen Nachbarländern ist dabei ein wichtiger Faktor, da die Energielage in Deutschland durch die geografische Lage und die Verbindungsleitungen zu elf europäischen Ländern besonders von der Entwicklung in Europa abhängt.

Im Vergleich zur ersten Sonderanalyse (März bis Mai 2022) wurden die Annahmen zu den Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf den Energiemarkt aus Vorsorgegründen deutlich verschärft und stufenweise hochskaliert. Zusätzlich berücksichtigen die Berechnungen weitere mögliche Engpässe in der Kraftwerksverfügbarkeit.

Deutlich bessere Ausgangslage für den Winter 2023/2024 erwartet

„Die Situation im Stromsystem in diesem Winter ist nicht mit der im Winter 2023/24 zu vergleichen“, betont Bundesminister Habeck angesichts der Stresstest-Ergebnisse. Für das nächste Jahr werden die Grundbedingungen andere sein, weil durch die längere Vorlaufzeit bereits beschlossene Maßnahmen stärker wirken und noch weitere umgesetzt werden können, sagte er.

Dafür will die Bundesregierung unter anderem die Gas-Importkapazität über schwimmende LNG-Terminals (FSRU) zum Winter 2023/2024 so steigern, dass keine Gasmangellage an den Gaskraftwerken mehr zu befürchten ist. Strom aus Biogas-Anlagen und aus Erneuerbare-Energien-Anlagen kann stärker genutzt werden. Auch eine größere Leistungsfähigkeit der Stromnetze und eine bessere Verfügbarkeit von Kraftwerkskapazitäten sowie flexiblen Lasten sollen bis zum Winter 2023/2024 umgesetzt werden.