Herausforderung Energiewende: "Die Stunde der Überschriften ist vorbei"

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel beim BDEW-Kongress 2015: Gute Grundlage für die Weiterentwicklung des Strommarkts gelegt.

Video: Rede des Bundesministers Sigmar Gabriel auf dem BDEW-Kongress 2015

Mehr Strom aus erneuerbaren Energien, weniger klimaschädliche CO2-Emissionen, mehr Energieeffizienz und der schrittweise Ausstieg aus der Atomenergie bis 2022: Um diese langfristigen Ziele zu erreichen, muss die Energiewende in Deutschland systematisch vorangetrieben werden. Zentrale Fragen dabei sind die Gestaltung des Strommarkts der Zukunft, die Umstellung des Kraftwerksparks oder die Modernisierung und der Ausbau der Netze. "Wir sind in einer ganzen Reihe zentraler Handlungsfelder weitergekommen", sagte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel beim Kongress des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) am vergangenen Mittwoch. Die größte energiepolitische Herausforderung des Jahres stehe aber noch bevor: die Entscheidung über die künftige Ausgestaltung des Strommarkts. Dazu wird das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) in Kürze das "Weißbuch Strommarkt" mit konkreten Lösungen vorlegen.

Mit der Zehn-Punkte-Energie-Agenda hatte das BMWi im Sommer 2014 einen Fahrplan für die zentralen energiepolitischen Entscheidungen vorgelegt – und erstmals dafür gesorgt, dass die einzelnen Zahnräder der Energiewende systematisch ineinandergreifen. Zu diesem Fahrplan gehören auch einige der Entscheidungen, die vor der politischen Sommerpause in den nächsten Tagen und Wochen fallen sollen: Die Weiterentwicklung des Strommarktdesigns sei dabei die wichtigste, machte Gabriel deutlich – und damit verbunden die Frage nach der Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung, dem Netzausbau und dem Beitrag des Stromsektors zu den Klimazielen. "Wir räumen gerade den Schutt auf, der davor vier bis fünf Jahre liegengelassen worden ist", sagte Gabriel beim BDEW-Kongress. "Die Stunde der Überschriften ist vorbei." Jetzt gehe es darum, Schritt für Schritt zu zeigen, wie die Energieversorgung langfristig sicher bleibt – und die Energiewende zugleich berechenbarer wird.

Wie sieht der Strommarkt von morgen aus?

Im vergangenen Jahr ist der Anteil erneuerbarer Energien am Stromverbrauch auf 28,7 Prozent gestiegen, in zehn Jahren soll er bei 40 bis 45 Prozent liegen. Doch während Strom aus Wind und Sonne naturgemäß schwanken, brauchen die Haushalte und die Industrie jederzeit eine verlässliche Stromversorgung. Ein weiterentwickelter "Strommarkt 2.0" sei auch in Zukunft in der Lage, die hohe Versorgungssicherheit kostengünstig zu gewährleisten, sagte Gabriel und sprach sich damit gegen das Modell eines "Kapazitätsmarkts" aus: Die Einführung eines Kapazitätsmarktes hieße, neben dem bestehenden Strommarkt einen neuen Markt zu schaffen. Auf diesem würde ausschließlich das Bereithalten von Leistung vergütet. Die zusätzlichen Kosten würden die Stromversorger auf die Verbraucher umlegen. "Ein Kapazitätsmarkt birgt vor allem das Risiko ausufernder Kosten, staatlicher Fehlsteuerungen und der Störung des Strommarkts. Wir wollen nicht dauerhaft in die Preisbildung am Markt eingreifen. Darauf müssen sich Investoren auch in Zukunft verlassen können", so Gabriel. Er sprach sich für ein marktwirtschaftliches Modell aus: "Ich bin dafür, dass Märkte endlich wieder Knappheitssignale senden und nicht Knappheitssignale durch die Politik ausgehebelt werden. Zudem gibt es deutliche Überkapazitäten am Strommarkt." Hier verwies der Bundesminister auf zwei aktuelle Berichte, die den Stromaustausch zwischen den europäischen Nachbarn mit einbeziehen – und so zeigen, dass Deutschland und seinen Nachbarländern keine Engpässe bei der Stromversorgung drohen. Der Stromaustausch im europäischen Binnenmarkt leistet hier einen wesentlichen Beitrag zur Versorgungssicherheit in Deutschland.

Erneuerbar oder fossil? Wir werden beides benötigen

Der steigende Anteil von Wind und Sonne an der Stromversorgung bedeutet nicht, dass Deutschland keiner anderen Energiequellen mehr bedarf. Im Gegenteil: Auch in Zukunft werden hocheffiziente, flexible fossile Kraftwerke für die zuverlässige Versorgung gebraucht. Die Energiewende dürfe nicht alternativ debattiert werden, unterstrich Gabriel. Es gehe nicht um ein Entweder-oder zwischen erneuerbaren Energien und fossilen Kraftwerken: "Wir werden auf lange, lange Strecken beides benötigen."

Im Dezember 2014 hat die Bundesregierung bekräftigt, dass Deutschland zu seinen ambitionierten Klimaschutzzielen steht: Die Treibhausgasemissionen sollen bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent (gegenüber 1990) sinken. Dafür muss der Strommarkt einen zusätzlichen Beitrag leisten. Derzeit liegen zwei politische Alternativen auf dem Tisch: der sogenannte Klimabeitrag, für den Betreiber von mehr als 20 Jahre alten Kraftwerken zusätzliche Emissionszertifikate erwerben sollen, wenn ein Kraftwerksblock über einen Freibetrag hinaus CO2 ausstößt, und die Überführung von besonders emissionsintensiven Kraftwerken in eine Reserve, verbunden mit einer verstärkten KWK-Förderung und einem Maßnahmenpaket für die Energieeffizienz. "Die Alternative besteht im Grunde darin, dass wir sagen, statt eines Klimabeitrags bringen wir schrittweise Kohlekraftwerke zur Stilllegung", so Gabriel. Auf dieser Grundlage müsse nun eine Entscheidung getroffen werden.

Klimaschutzbeitrag des Stromsektors: zwei Alternativen

"Der Klimabeitrag hat aus unserer Sicht den Vorteil, dass er effizient und kostengünstig ist. Er hat den Nachteil, dass die Unternehmen mit nachvollziehbaren Argumenten darauf hinweisen, dass das Ganze zu Arbeitslosigkeit und zu Strukturbrüchen führen kann, die wir nicht wollen", sagte er. Der Alternativvorschlag hingegen koste nicht nur Geld aus dem Bundeshaushalt, sondern ließe auch die KWK-Umlage (Umlage für Kraft-Wärme-Kopplung, also die gleichzeitige Gewinnung von Strom und Wärme) steigen. Dies dürfe nicht den Verbrauchern und dem Mittelstand aufgebürdet werden. Die künftige Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung solle sich darauf konzentrieren, bestehende Gas-KWK zu sichern. "Diese Anlagen sollen befristet bis Ende 2019 eine Förderung erhalten, um eine Stilllegung zu vermeiden. Wir gehen also in die Bestandsförderung. Auch die Förderung von Neuanlagen wollen wir maßvoll anheben, um die Perspektiven für die Kraft-Wärme-Kopplung zu sichern," sagte Gabriel und verwies zugleich auf die ehrgeizigen Klimaschutzziele für die kommenden Jahre, die die damalige Bundesregierung 2010 beschlossen hat: Während bis 2020 noch 22 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich in der Stromerzeugung eingespart werden müssen, sollen es bis 2030 weitere 200 Millionen Tonnen – also rund das Zehnfache – und bis 2040 rund 400 Millionen Tonnen sein. Der Stromsektor soll dazu den Löwenanteil beisteuern.

"Die Energiewende wird auf Dauer nur stattfinden und laufen, wenn wir alle mitnehmen", so der Bundesminister. Die Bevölkerung dürfe nicht den Eindruck haben, ihre Argumente und Sorgen um Arbeit und Beschäftigung müssten hinter großen Zielen zurückstehen – sonst drohe das Verständnis für die Energiewende verloren zu gehen.

Umbau der Stromnetze: mehr Möglichkeiten zu Erdverkabelung

Mit der Energiewende ist die Stromversorgung hierzulande zunehmend dezentral geworden: Haben vor 20 Jahren noch ein paar hundert mittlere und große Kraftwerke den nötigen Strom erzeugt, sind es mittlerweile fast zwei Millionen Anlagen wie Photovoltaikmodule und Windräder, die ihre schwankende elektrische Leistung ins Netz einspeisen – vor allem in die Verteilernetze, an die die Verbraucher direkt angeschlossen sind. Das BMWi hat mit einem Eckpunktepapier vom März daher einen Vorschlag gemacht, wie die Rahmenbedingungen ausgestaltet werden müssen, um die nötigen Investitionen der Verteilernetzbetreiber zu erleichtern. Hinsichtlich der Übertragungsnetze, die den Strom über weite Strecken transportieren, arbeite man intensiv an einer breiteren Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger, so Gabriel. Mit mehr Möglichkeiten zur unterirdischen Erdverkabelung auf einzelnen Streckenabschnitten könnten nicht nur Kosten gespart, sondern Vorhaben auch beschleunigt werden. Beim Bau der geplanten Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungs-Strecken (HGÜ), den neuen sogenannten Stromautobahnen, lediglich auf überirdische Freileitungen zu setzen, bedeute hingegen zusätzliche Kosten – "und zwar vor Verwaltungsgerichten und durch die Verzögerung des Netzausbaus."