"Die Menschen müssen Akteure sein, nicht Statisten"

Die Ukraine plant in den nächsten Jahren den Rückzug aus der Kohleverstromung und eine zunehmend CO2-freie Wirtschaft. Wie sie dabei auf deutsche Unterstützung zählen kann, erklärt der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für den Strukturwandel in den ukrainischen Kohleregionen, Stanislaw Tillich, im Interview.

Stanislaw Tillich© Sächsische Staatskanzlei / Matthias Rietschel

Stanislaw Tillich kennt sich aus mit dem Thema Kohleausstieg, nicht nur als Politiker. Während seiner Zeit als sächsischer Ministerpräsident hat sich der gebürtige Lausitzer intensiv mit dem Strukturwandel in Sachsen und anderen Teilen der Bundesrepublik befasst. Er war außerdem einer der Vorsitzenden der Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung der Bundesregierung. Aufgewachsen in einer Kohleregion hat Stanislaw Tillich die Abkehr von der Kohle ganz persönlich erlebt und kennt neben den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen auch die kleinen aber für die Menschen in Strukturwandelregionen bedeutsamen und unmittelbaren Fußnoten.

Anfang Dezember wurde er zum Sonderbeauftragten der Bundesregierung für den Strukturwandel in den ukrainischen Kohleregionen berufen und auf dem 1. Deutsch-Ukrainischen Energietag Ende 2020 nochmals vorgestellt. Der Energietag ist die zentrale jährliche Veranstaltung der Deutsch-Ukrainischen Energiepartnerschaft, die die beiden Länder am 26. August 2020 mit einer gemeinsamen Erklärung geschlossen haben. Sie wollen Erfahrungen austauschen und im Energiebereich enger zusammenarbeiten.

Herr Tillich, vor welchen Herausforderungen steht die Ukraine in den kommenden Jahren und wie kann Deutschland das Land unterstützen?

Als eines der ersten Länder hat die Ukraine das Abkommen von Paris, ein globales Klimaabkommen, unterzeichnet. Darin verpflichten sich die Staaten dazu, die Weltwirtschaft auf klimafreundliche Weise zu verändern. Spätestens 2040 soll die ukrainische Energiewirtschaft ohne Kohleverstromung auskommen. Bis 2070 will das Land CO2-neutral werden. Die ukrainische Regierung möchte deshalb die zunehmend unwirtschaftlichen und inzwischen hoch subventionierten Kohlekraftwerke und Steinkohlegruben im Land schließen. Von 33 staatlichen Minen gelten nur vier als rentabel. Wir sprechen hier vor allem über Steinkohle, da die Ukraine über eines der größten Steinkohlevorkommen in Europa verfügt. Zusätzlich ist die Wirtschaft der Ukraine energieintensiv und das Land ist sehr abhängig von Öl- und Gasimporten.

Die Herausforderungen, vor denen die ukrainische Regierung in den kommenden Jahren stehen wird, sind also vielfältig. Vor allem aber wird es darum gehen, beim Kohleausstieg einen nachhaltigen sozialverträglichen und ökonomischen Wandel zu schaffen, ohne die Energiesicherheit im Land zu gefährden. Das wird keine leichte Aufgabe. Die Ukraine hat mehr als 41 Millionen Einwohner. Bis zu 700.000 Menschen arbeiten heute noch im Bereich der Kraftwerke und der staatlichen und privaten ukrainischen Minen. Die Regierung hat deshalb ein nationales Programm zum Kohleausstieg und eine Energiestrategie erarbeitet. Darin geht es um grundlegende Reformen auf dem Energiesektor.

Hier können wir als Bundesrepublik Deutschland auch im Rahmen unserer Energiepartnerschaft mit der Ukraine unterstützen – und zwar nicht nur beim Kohleausstieg, sondern auch beim Blick in die Zukunft der ukrainischen Energiewirtschaft mit mehr Energieeffizienz und erneuerbaren Energien.

Wir können unsere vielfältigen Erfahrungen aus den deutschen Kohlerevieren einbringen. Probleme wie die Entvölkerung ehemaliger Bergbaugebiete haben wir selbst erlebt und daraus wichtige Lehren gezogen.

Wie wird die Unterstützung vor Ort konkret aussehen?

Wir werden der Ukraine zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), die schon seit 2009 ein eigenes Landesbüro in Kiew betreibt, rechtlich und strategisch beratend zur Seite stehen. Dazu gehört zum Beispiel unsere Unterstützung bei der Ausarbeitung von Ausstiegsstrategien und des dafür erforderlichen Rechtsrahmens. Im Gespräch ist auch unsere Hilfe beim Aufbau und Management eines Strukturwandelfonds, an dem auch die Europäische Kommission beteiligt sein kann. Die Ukraine hat ein Koordinationszentrum aufgebaut. Im Auftrag des BMWi wurde für die Umsetzung der Energiepartnerschaft ein Ländersekretariat eingerichtet.

Wir haben also eine gute Basis vor Ort und werden von dort mehrere Pilotprojekte für den regionalen Strukturwandel betreuen. Mit ihnen wollen wir exemplarisch erproben und zeigen, wie die Transformation nach der Kohle gelingen kann. Zwei Pilotregionen des GIZ-Projektes sind die Stadt Myrnohrad in der ostukrainischen Region Donetsk und die Stadt Chervonohrad in der westlichen Ukraine.

Was sind Ihre Aufgaben als Sonderbeauftragter der Bundesregierung und was möchten Sie ganz persönlich erreichen?

Ich möchte mich mit Nachdruck, dafür einsetzen, dass die Strukturwandelprozesse in der Ukraine gut vorankommen. Wir wollen das Knowhow und das Bewusstsein für Energiewende-Themen steigern und Lösungswege für den Wandel der Energiesysteme vorschlagen. Das gelingt am besten, wenn ich möglichst viel vor Ort sein kann, was derzeit durch die Corona-Pandemie leider noch schwierig ist. Mit einem Sonderbeauftragten der Bundesregierung bekommt die Unterstützung von regionalen Projekten und deren Umsetzung natürlich zusätzlich auch ein gewisses politisches Gewicht. Das macht es uns leichter, strukturelle Anpassungsprozesse vor Ort anzustoßen.

Politik sollte immer von Mensch zu Mensch gemacht werden. Für die Ukraine wünsche ich mir, dass es gelingt, den Menschen in den dann ehemaligen Kohleregionen und auch ihren Kindern langfristige Zukunftsperspektiven aufzuzeigen und sie so aktiv wie möglich am Strukturwandelprozess zu beteiligen. Sie dürfen nicht nur Statisten sein, sondern müssen überzeugt und bereit sein, einen neuen Weg zu gehen. Wer sich klar macht, wie identitätsstiftend und mit wie viel Stolz ein Arbeitsleben in der Kohle ist, der versteht, dass diese Menschen unbedingt zu Akteuren eines solchen Wandels werden müssen und eine Perspektive in ihren Heimatregionen brauchen. Mit Blick darauf, etwas zu bewegen wird eine meiner wichtigsten Aufgaben sein.

Wie könnte sich der Energiesektor der Ukraine langfristig entwickeln und welche Bedeutung hat das Land mit Blick auf die globale Energiewende für Deutschland und Europa?

Wie schon angesprochen birgt die Wirtschaft der Ukraine große Potentiale für Energieeffizienz und erneuerbare Energien. Aktuell sind die Schwerpunkte unserer Energiepartnerschaft die Steigerung der Energieeffizienz, die Modernisierung des Stromsektors, der Ausbau der Erneuerbaren und die Reduzierung der CO2-Emissionen.

Zukünftige Schwerpunkte sollen die wichtige Transformation der Kohleregionen und die Integration von erneuerbaren Energien sowie von grünem Wasserstoff sein. Für den Einsatz von Wasserstofftechnologien hat das sonnen,- wind- und wasserreiche Land gute Voraussetzungen. Das ist auch interessant für die Exportchancen deutscher Unternehmen auf dem ukrainischen Markt. Und natürlich macht die Energiewende nicht an Landesgrenzen halt, weshalb die Klimaziele der Ukraine, die Orientierung am Green Deal der EU und die Versprechen, die das Land mit der Unterzeichnung des Pariser Abkommen abgegeben hat, auch eine europäische Angelegenheit sind.

Sie sind in einer der größten Kohleregionen Deutschlands geboren und aufgewachsen und haben den Weg aus der Kohle in Sachsen später als Ministerpräsident politisch begleitet. Welche besonders prägenden persönlichen Erinnerungen haben Sie daran und was bedeutet das Thema Energiewende für Sie ganz persönlich?

Mich hat immer besonders beeindruckt, welchen Einfluss das Leben und die Arbeit in einer Kohleregion auf das Selbstverständnis der Menschen hat. Oftmals haben die Menschen nicht nur ihr ganzes Arbeitsleben im Kohlerevier verbracht, sondern auch die Generation davor oder die Generation danach. Sie waren dafür zuständig, dass es im Winter warm wird und hell im Haus. Wenn etwas mal nicht lief, wusste man sich zu helfen. Geht nicht, gabs nach Möglichkeit nicht. Beim Ausstieg aus der Kohle haben wir vieles gut aber auch Fehler gemacht. Besonders gut gelungen ist es immer dann, wenn die Menschen ihre positive Einstellung behalten und zusätzlich eine langfristige Zukunftsperspektive in ihrer Heimatregion bekommen haben, mit der sie sich wirklich identifizieren konnten. Das gehört für mich zu einer gelungenen Energiewende unbedingt dazu.

Herr Tillich, ich danke Ihnen für das Gespräch. Das Interview führte Dana Hesse.

Stanislaw Tillich war von 2008 bis Ende 2017 Ministerpräsident des Freistaates Sachsen. Zuvor hatte er, seit 1999, verschiedene Ämter in der sächsischen Landesregierung inne. Unter anderem war er von 2002 bis 2004 Staatsminister und Chef der Staatskanzlei, von 2004 bis 2007 sächsischer Staatsminister für Umwelt und Landwirtschaft und von 2007 bis 2008 sächsischer Staatsminister für Finanzen.